Magazin „Nordstern“ - Ausgabe September 2016

 

Leider hat die Redaktion des "Nordstern" ohne Rücksprache mit mir den Text etwas "überarbeitet".

Diese Änderungen waren nicht in meinem Sinne und dadurch wurden wesentlich Anteile des Textes geändert und/oder entnommen. Etwaige, dadurch entstandenen Wertungen in politischer und menschlicher Hinsicht, bitte ich zu entschuldigen, entstammen allerdings nicht meiner Feder.

Deshalb ist hier die Originalversion des Artikel von mir zu lesen..........

 

Vererbte Wunden - Trauma im System

 

Die politische Situation in und um Europa herum bringt Themen wie Krieg, Flucht & Vertreibung und damit einhergehende sexuelle Übergriffe noch einmal zurück in unsere Aufmerksamkeit, wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Begriffe wie Kriegskinder, Nachkriegskinder und Kriegsenkel werden lauter und größer, geprägt durch die Bücher von Sabine Bohde und Luise Reddemann. Die Resonanz ist groß, wie ich in meiner Praxis und Gruppenarbeit erlebe. Die alten traumatischen Erfahrungen, inzwischen schon über 70 Jahre her, stecken noch in den Systemen der Familien, in den  Menschen selbst und sind auf der Gefühlsebene noch lebhaft und präsent.  Und  sie sind noch lange nicht so verblasst, wie man dies nach so einem langen Zeitraum erwarten sollte.  Heilt die Zeit wirklich alle Wunden oder ist es möglich, dass Traumatische Erfahrungen im System weiter vererbt werden?

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In der Systemischen  Therapie  und Traumatherapie erlebe wir, wie sehr diese Themen die Menschen berühren, durch alle  Altersschichten hindurch. Alte Menschen weinen plötzlich über Dinge, die inzwischen über 70 Jahre her sind. Eigentlich doch vorbei und trotzdem sind die damit verbundenen Gefühle, während sie darüber sprechen noch so präsent, als wären sie gestern geschehen. Ängste und Wut steigen in den Menschen auf und es sind  Sätze zu hören wie "Meine Eltern haben auch nichts bekommen, als sie aus dem Osten hierher ankamen, die Flüchtlinge jetzt bekommen alles hinterher geschmissen!". Und auf der anderen Seite aber auch ein tief empfundenes Mitgefühl mit den Menschen, die heute aus ihrer Heimat fliehen müssen, die dem Entsetzen des Krieges direkt ins Auge sehen mussten und ihre Familienmitglieder verloren oder zurückgelassen haben.
Ebenso ist zu hören von dem Impuls helfen zu wollen, Unterstützung anzubieten, da zu sein.
Einige Menschen fühlen sich gelähmt, können nicht mitfühlen, können nicht helfen, sind erstarrt in ihren Gefühlen, handlungsunfähig, machtlos der Größe dieser Thematik gegenüber.

 

Was genau passiert aber in jedem Einzelnen dadurch, dass der Krieg heute wieder so präsent bei uns wird. Kann es wirklich sein, dass diese alten Erfahrungen noch so real von Menschen hier bei uns erlebt werden, die teilweise gar nicht mehr selbst am Kriegsgeschehen der Jahre 1939-1945  beteiligt waren, vielleicht sogar selbst ihre Eltern nicht.

 

In der Traumatherapie gibt es  Begriffe wie "Transgenerationale Traumatisierung" oder "Mehrgenerationale Psychotraumatologe" die deutlich machen, dass es tatsächlich möglich ist, dass nicht verarbeitete Traumatisierungen in Systemen über mehrere Generationen weitergereicht werden. Auch die Hirnforschung, die Neurobiologen und Epigenetik haben inzwischen deutlich belegt, dass Erfahrungen der Eltern und Großeltern über die DNA an die Kinder und Enkel "weitergereicht" werden, vererbt werden. Traumatische Erfahrungen verändern die DNA und unsere Gehirn, wie  der Neurobiologe Joachim Bauer in seinem Buch "Das Gedächtnis des Körpers" sehr schön verdeutlicht.
"Schlummern" solche  traumatischen Erfahrungen in uns und unseren Systemen kann es jederzeit passieren, dass sie durch Trigger in der Lebensgegenwart zum Leben erweckt werden.

 

Begegnen wir einer Situation oder Lebenserfahrung in unserer aktuellen Gegenwart, die in irgendeiner Form an ein altes, weit zurückliegendes und unverarbeitetes Ereignis  erinnert, steigen wir ein in eine neurobiologische Reise in die Vergangenheit. Unser Gehirn macht in diesem Falle keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern aktiviert die verschiedenen Phasen unserer Trauma-Physiologie auf hormoneller, neurologischer und physiologischer Ebene. Es kommt zu erhötem Blutdruck und Herzschlag, Muskelanspannung, Pupillenverengung, Unruhe, Bedrohungsgefühlen, Existenzängsten - sämtliche „Fight or Flight“- Reaktionen werden hochgefahren. Bis diese ganzen Mechanismen in unserem Gehirn kurz vor der gänzlichen Überforderung in eine Schreckstarre kippen und es zu Blutdruckabfall, Abfall des Herzschlages, Erschlaffung der Muskelinnervation, Pupillenerweiterung, Schmerzunempfindlichkeit und Depersonalisation kommen kann. Nicht immer treten alle Symptome gleich massiv und in voller Ausprägung auf. Oftmals gibt es schon gut entwickelte Überlebensanteile, die uns rechtzeitig vor dem ganzen Ausmaß dieses Erlebens schützen. Wie gut, dass es sie gibt (oder gab) und dass sie uns oder unseren Vorfahren in der ursprünglichen Traumasituation das Überleben ermöglicht haben. Doch langfristig, z.B. über eine Zeitraum von 10, 30 oder 50 Jahren oder mehreren Generationen hinweg, sind diese Überlebensstrategien irgendwann überholt. Durch das dadurch inszenierte Vermeidungsverhalten gehen uns viele Möglichkeiten und Potentiale in der Gegenwart verloren und wir bremsen uns selbst in unserem eigenen Leben aus.

 

Hierbei spielt es keine Rolle, ob dies eigens erlebte Ereignisse sind oder weit zurückliegende Erfahrungen im Familiensystem. Dies können z.B. Erfahrungen der Eltern, Groß- oder Urgroßeltern sein. Aber auch Ereignisse, die mit weiter entfernten Personen im System zu tun haben, z.B. Geschwistern, Onkel / Tanten der Eltern und Großeltern, die sie selbst nie kennengelernt haben. Traumata im System formen und bestimmen das emotionale Erleben der Familien und ihren einzelnen Mitgliedern bis in unserer Gegenwart (und Zukunft) und erwirken immer wieder Situationen in unserem Leben, die eine Reinszenierung der Vergangenheit mit sich bringen. Immer wiederkehrende Möglichkeiten auf die vergangenen, teilweise verblassten oder ganz vergessenen Ereignisse oder Personen im System hinzuweisen. Bis diese angeschaut und verarbeitet werden können. Auf diese Weise kommt es in Familiensystemen auch immer wieder dazu, dass sich traumatische Ereignisse, von Generation zu Generation, aber auch manchmal  durch Überspringen einer Generation, wiederholen, z.B. tragische Unfälle, Krankheiten, Bindungstraumatisierungen, sexueller Missbrauch usw.  Aber  ebenso werden auch die daraus resultierenden Überlebensstategien wiederholt, z.B. Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis, Verleugnung, Alkohol- oder Drogenmissbrauch um das Vergessen zu Erleichtern, Gewalt in Familien – aus Opfern werden Täter.

 

Ein Mann, Anfang 40, mit  lang anhaltenden Magenbeschwerden hatte sich in der Vergangenheit immer wieder an politischen "Antifa-Aktionen" beteiligt. Dabei begegneten ihm viel körperliche Gewalt, Hass, Angst usw. Gefühle, die er auch bis heute in seinem Leben lebhaft spüren konnte. Immer dann, wenn er sie spürte, war dies auch mit heftigen Magenbeschwerden verbunden. Er war sich sicher, dass diese massiven Gefühle, die ihm sowohl in seinem inneren Erleben, wie auch im Äußeren auf Demos und Schlägereien mit "Faschos" begegnet waren, aus dieser intensiven Zeit seiner frühen Jugend stammten. Sobald das Thema 2. Weltkrieg und Nationalsozialismus auf den Tisch kamen, kochten in ihm dieser tiefe Hass und auch die Machtlosigkeit diesem System gegenüber auf. Ganz ruhig konnte es in ihm werden und bleiben, als er in einer Aufstellung seinem Großvater gegenüber stand und ihm auf einmal deutlich wurde dass die von ihm gespürten Gefühle gar nicht seine eigenen waren, sondern erstarrte und abgespaltene Gefühle seine Großvaters waren. Dieser war in den ersten Kriegsjahren, um 1940 herum, von den Nazis wegen "politischer Machenschaften" ins KZ eingeliefert und dort auf schlimmste Art und Weise gefoltert, misshandelt und gedemütigt worden. Seinem Opa war es jedoch ein Leben lang nicht möglich diesen Hass und die damit verbundene Ohnmacht und Verzweiflung noch einmal in sich zuzulassen, um diese zu verarbeiten. Sein Großvater war im Alter von fast 90 Jahren an einem durchbrochenen Magengeschwür gestorben.

 

Trauma im Familiensystem hat Folgen. Nicht nur für denjenigen, der es selbst erfährt. Durch die unverarbeiteten und damit nicht integrierten Gefühle bleiben Anteile von uns „auf der Strecke“. Sie mindern unser emotionales Erleben und unsere Empathiefähigkeit mit uns selbst und anderen, was sich innerhalb der Familie auf andere Familienmitglieder, besonders auf die eigenen Kinder auswirkt. Diese erleben die Eltern in verschiedenen Situationen als abwesend, emotional nicht erreichbar, irgendwie nicht präsent.
Wenn diese Nicht-Präsenz in Situationen erlebt wird, in denen das Kind auf die Feinfühligkeit seiner Bindungsperson angewiesen und von der gefühlsmäßigen Regulation durch die Bindungsperson abhänig ist, entstehen Bindungsverletzungen oder Bindungstraumata. Diese wiederum wirken sich auf die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes und damit seinen gesamten Lebenslauf aus. Es entstehen im Kind wiederum Anteile, die „auf der Strecke“ bleiben, abgespalten werden. Diese Anteile wiederum wirken sich viele Jahre später  auf die Entwicklung der Psyche der eigenen Kinder aus. So pflanzen sich emotionale Wunden im System fort und werden von Generation zu Generation vererbt. Je schwerwiegender die Traumatsierung, je weniger präsent in der Feinfühligkeit, je früher und langwieriger das Kind die Eltern / Elternteil so erlebt, desto schwerwiegender die daraus resultierenden Verletzungen und Traumata für das Kind.

 

Doch noch einmal zurück zur politischen Situation heute. Die Menschen, die aus den Kriegsgebieten heute nach Europa und Deutschland kommen haben eine enorme Menge "Triggermaterial" in ihrem Gepäck, dass in uns die alten unverarbeiteten Traumata in unseren Systemen aktiviert. Damit kommen in uns die alten "schlummernden" und „vererbten“ Gefühle an die Oberfläche, die Ängste, Verzweiflung, Ohnmacht, die Angst "überrannt" zu werden, die Ängste der Frauen vor Missbrauch und Vergewaltigung. Wir begegnen nicht nur den Flüchtlingen und Krieg im Außen, sondern auch den Erfahrungen in unseren Familiensystemen aus Zeiten des Naziterrors und den Folgen des 2. Weltkrieges.
Hier vermischen sich also Gegenwart und Vergangenheit miteinander, was zu einer Intensivierung des inneren Erlebens und zum Auftreten enorm großer Gefühle führt. Für uns meist nicht erkennbar, was das Eigene und was "vererbtes" oder "verstricktes" Gefühl ist.

 

Eine Frau, Ende 40, spürte ihr Leben lang immer eine massive Angst vor Männern. Gleichzeitig war sie voller Sehnsucht auf der Suche nach einer Partnerschaft, in der sie Frieden und Geborgenheit leben konnte. Schon in ihrer Geschichte gab es sich immer wiederholende destruktive Beziehungsmuster, in denen sie körperliche Gewalt und Missbrauch am eigenen Leibe erfahren hatte. Ihre Großmutter und Mutter waren beide aus Ostpreußen geflohen und auf der Flucht von russischen Soldaten körperlich misshandelt und vergewaltigt worden. Dies war ein Tabuthema in der Familie und von Schweigen verhüllt. Erst als dieses Ereignis sich in einer Aufstellung zeigte, traute sich die Patientin ihre eigene Mutter auf ihre Geschichte anzusprechen. Daraufhin brach die Mutter im Alter von fast 80 Jahren ihr Schweigen und erzählte von den schlimmen Erfahrungen und der Gewalt, der sie und ihre Mutter auf der Flucht ausgesetzt waren.

 

Solange durchgemachte Erfahrungen und unverarbeitete Traumatisierungen im System aktiv oder abgespalten sind, besteht immer die Gefahr, dass diese durch Erfahrungen im Äußeren unerwartet aktiviert werden können.

 

Die Möglichkeit, die wir durch die Systemische Therapie und Aufstellungsarbeit haben, ist uns diesen alten Verletzungen zu stellen, hinzuschauen, inwieweit wir selbst oder unsere eigenen Gefühle noch mittendrin in der eigenen Kriegsgeschichte stecken, inwieweit die Erfahrungen von vor über 70 Jahren heute noch, inzwischen nun schon  bis in die  Nachkriegsgeneratinonen hinein, uns selbst und unser emotionales Erleben beeinflussen.

 

Kaum eine Familie in Deutschland ist vom 2. Weltkrieg und seinen Folgen unbetroffen. Kein Wunder also, dass dieses gesellschaftssystemische Ereigniss die Menschen so sehr bewegt. Inzwischen sind Jahre und Generationen vergangenen und durch den Abstand lassen sich die Traumata im System „leichter“ anschauen.
Da kommt die Frage auf, wie groß die Chancen für uns sind, dass Kriegstrauma der Eltern und Großeltern durch die gegenwärtigen Ereignisse getriggert werden können und was uns im therapeutischen Rahmen die Möglichkeit gibt diesen alten vererbten Wunden noch einmal zu begegnen, diese anzuschauen, damit sie dann in uns und in unseren Systemen und Familien ruhig werden können. Und wodurch vielleicht auch die gesame Gesellschaft ein bisschen heiler werden könnte, je mehr Menschen bereit sind sich dem zu stellen.

 

Quellenangaben:
Bauer, Joachim – Das Gedächtnis des Körpers
Bode, Sabine – Die vergessene Generation , Kriegsenkel
Huber, Michaela – Transgenerationale Traumatisierungen
Ruppert, Franz – Symbiose & Autonomie

 

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